Seit Jahrtausenden reist der Mensch. Einst um das Weidevieh an saftig grüne Plätze zu geleiten. Oder um die Karawane in wärmere Gefilde zu führen. Auch die Suche nach neuem Ackerland trieb uns an. Später galt es neue Kulturen kennenzulernen und weiße Flecken auf der Landkarte zu erschließen. Schweiß und Strapazen waren stets treue Wegbegleiter. Heute klicken wir uns im Nu das nächste Reiseziel herbei. Die Tourismusbranche hält uns an jeder Ecke die saftige Urlaubs-Karotte vor die Nase. Die Optionenvielfalt des 24/7 verfügbaren Jet-Set wird zum Stressfaktor. Schnell über das Smartphone gewischt und es kann losgehen.
„Warum reist du eigentlich so gern?“ fragt mich Harald, als er den perlenden Aperol-Spritz nachfüllt. Am Bug sitzend lassen wir uns von den Wellen Richtung Horizont schaukeln, während wir den Eiswürfeln im Glas beim Schmelzen zusehen. Mein Blick fokussiert das Boot in der Ferne. Das weiße Segel vor dem royalen Königsblau des Ozeans bläht sich auf. Davor tänzeln die Schaumkronen auf den azzuren Wellen. Der samtige Wasserteppich vor uns glitzert und funkelt.
Zwei Freunde, ein Segelboot, viele unbewohnte Inseln. Gemeinsam erkunden wir die kroatische Inselwelt. Dem istrischen Massentourismus haben wir bewusst genauso den Rücken gekehrt, wie der Dalmatinischen Partyszene. Delfine statt Shots. Abendsonne statt Morgengrauen. „Genau wegen Momenten wie diesem!“ ist mein erster Gedanke.
„Wie will man denn Magnetismus in Worte fassen? Egal ob den zu Menschen, zu Orten, oder eben zum Reisen?“ frage ich Harald retour.
Ich bin ihm dankbar für diesen Impuls. Im Innen starte ich die Suche nach dem Warum.
Seit Kindheitstagen sind Koffer und Rucksack treue Gefährten. Wann immer es hieß „Wir verreisen!“ stieg der mit Endorphinen getränkte Schmetterlings-Schwarm in der Magengrube auf. Kommt Emotion von Motion? Sprich Emotion weil man in Bewegung ist? Entdeckungen machen. Sich weiterbewegen.
„Wollen wir von einem Ort aus Tagesausflüge machen oder den Karnischen Höhenwanderweg von Hütte zu Hütte entlang wandern?“ eröffnete Michaela damals die Diskussion in unserer Wandergruppe, als wir die Sommerurlaubs-Planung in Angriff nahmen.
Für mich sonnenklar: Weitergehen! Jeden Tag weitergehen. Am Morgen nicht wissen, was der Abend bringt. Und auch die Stunden dazwischen sind ungewiss. Mit dem eigenen Schneckenhaus am Rücken. Das Notwendigste ist mit dabei, für Verpflegung und ein warmes Bett sorgen die Unterkünfte. Diese Art des Reisens ist nicht immer federleicht. Regen, Wind, Verirren, Muskelschmerzen, Beinaheresignation, Wetterkapriolen, Überforderung und Erschöpfung – wir haben sie als Begleiter auf unserer Wanderung akzeptiert. Denn auch sie können Zutaten für eine lebensgewürzte Reise sein.
Wachstum hat in meinem Leben oft dann stattgefunden, wenn der Weg nicht von Zuckerstangen flankiert und in Honig einbalsamiert war.
Ich denke zurück an das Etappenrennen quer durch Südafrika. 8 Tage am Mountainbike. Jeden Abend an einem anderen Ort in der eigens aufgebauten Zeltstadt erschöpftest vom Rad fallen. Der Knieschmerz unerträglich. Die aufgebrannte Haut wie glühendes Leder. Die Dornen vom Dickicht stecken noch in den Oberarmen. Die Schürfwunden wollen zu heilen beginnen. Und der Gedanke „Warum tu ich mir das an?“ hämmert permanent von innen an die Schädeldecke. Jeder Südsee-Urlaub in der Hängematte vor kitschigstem Türkisblau wäre günstiger gewesen.
Doch der letzte Tag rechtfertigt alles und gibt den Strapatzen und dem Leiden einen Sinn. Das nähern der Ziellinie, die letzten Meter, das Überfahren des weißen Kalkstreifens im afrikanischen Steppensand – ein unvergesslicher Moment. So viel Freude und Erleichterung kann nicht im geschundenen Körper bleiben. Sie will raus. Wie Kindern spritzen uns die Tränen waagrecht aus den Augen als wir mit erhobenen Händen in die Zielarena einfahren. Erleichterung der Extraklasse. Entwicklung findet statt. Es hat sich ausgezahlt. Das Leiden hat ein Ende. Inneres Wachstum. Schmerz vergeht, Stolz bleibt!
Als Kind wanderten meine Eltern mit uns oft quer durch die Karnischen Alpen. Beim Blick von den kleinen Holzbrücken auf die Gebirgsbäche unter uns galt meine ganze Bewunderung stets den mutigen Forellen. Nicht am Rande des Baches im ruhigen Gewässer verharrten sie. Nein, mit anmutigen Haifisch-Bewegungen blieben sie in der Mitte des Baches und widersetzten sich mit viel Aufwand der Strömung. Am Rand des Gewässers im ruhigen Wasser wäre es angenehmer, gemütlicher gewesen. Doch vielleicht geht es uns Reisenden wie den Bachforellen. Ziehen auch wir aus der Bewegung, aus der Reibung, aus dem Widerstand prickelnde Lebensenergie?
Mag sein. Doch: Es darf auch leicht gehen. Nicht immer wartet das Glück in der Bachmitte auf uns. Neues erforschen und Abenteuer erleben kann auch Zuckerstangen-flankiert und nach Honig schmeckend passieren.
Vor Jahren habe ich mit mir selbst die Vereinbarung getroffen, privat nur noch südlich von meinem Lebensmittelpunkt Österreich zu verreisen. Kalt ist mir daheim oft genug. Im Urlaub mag ich es warm. Sehr warm. So wurde die südwestliche Ecke von Afrika mit dem exotisch klingenden Namen Namibia soetwas wie mein zweites zu Hause. Zumindest fühlt sich meine Seele dort sehr zu Hause und vertraut.
Ich denke gerne zurück an die magischen Momente, als der luftgefederte und vollklimatisierte Allrad-Pick Up uns sanft und sicher über die kilometerlangen Sanddünen getragen hat. Ein Roadtrip zwischen Luxuslodge und Glamping-Camps. Die endlose Weite dieser archaischen Landschaft lässt jedesmal aufs Neue ein Tor in mir aufgehen, für das sonst kaum etwas im Leben den Schlüssel hat. Der Weg ist das Ziel. Die Fenster geöffnet, den Fahrtwind im Haar, die Sonne auf der Haut, einheimische Klänge im Ohr und Leichtigkeit samt großer Freude im Herzen. Unterwegs sein.
Wenn ich in der Wüste bin, lässt mich der Blick in die Ferne jedesmal aufs Neue wissen: So sah es hier auch schon vor Millionen von Jahren aus. Kein Strommast. Kein Handy-Sender. Keine Straßen. Keine Häuser. Keine optische Landschaftsverschmutzung. Unberührte Reinheit. Nichts, das auf menschliche Zivilisation hinweist. Augenschmaus auf Endstufe. Es ist so anders als daheim. Archaik vom Feinsten. Ich liebe diesen Natur-Pur Charakter im Südwesten von Afrika.
Jeden Abend freuen wir uns aufs Neue über die hereinbrechende Nacht – in der Wüste ein ganz besonderes Spektakel unter dem schönsten Dach der Welt. Einschlummern unter dem Glitzer tausender kontrastreicher Sterne. Zu Hause liebe ich es, ein warmes Schaumbad zu nehmen. Hier an den Wüstenabenden entdecke ich eine neue Lieblingsdisziplin: Das warme Windbad. Die ins Freie rollbaren Betten machen es möglich. Weite und keine Spur von Zivilisation. Danach verzehre ich mich.
Reisen Deluxe am anderen Ende der Welt. Unterwegs sein. Es ist so anders und genau dieser Kontrast macht die Würze. Neues erforschen. Abenteuer erleben. Wärst du, liebe Reise, eine Frau, ich würde mich dir hingeben. Jedes mal mit großer Lust aufs Neue. Ein Trieb der tief in uns sitzt. Bekanntes Terrain verlassen. Die Neugierde stillen. Früher lockte das nächste Tal, heute tut es der nächste Kontinent. Die Dimensionen haben sich verschoben. Über den Tellerrand blicken. Neue Kulturen, neue Bräuche, neue Gerüche, neue Gepflogenheiten, neue Menschen, neue Bräuche. Landschaften, die uns mit offenem Mund staunen lassen, weil sie so bizarr und anders sind als alles, was wir kennen. Ist nicht das die Würze des Lebens? Uns auf zu neuen Ufern zu machen, unseren Synapsen neue Verschaltungen zu gönnen, um so unseren Horizont zu erweitern.
Es geht aber auch ganz anders. Bewegung und Entwicklung müssen nicht immer die Zutaten einer Reise sein. Wenn uns bei maledivischen Bedingungen im Schatten des Palmenblätterdachs der salzgetränkte Tropenwind wie ein guter Freund zart über den Rücken streicht, dann steht für viele von uns die Zeit still.
Einfach beim Eintauchen ins glasklare Nass all die Last des stressigen Alltags von uns spülen und beim Trocknen im schneeweißen Sand Den Lebensakku wieder aufladen. Wenn ich dann aus der Hängematte die Farben des Meeres bestaune, dann denke ich mir oft: „Was im Leben ist schöner?“ Lebenslust inhalieren und nach dem malerischen Sonnenuntergang künstlerische Buffets genießen, egal ob mit dem Auge oder dem Gaumen. Auch das kann reisen sein. Der einen das süße honigtriefende Baklava, dem anderen den pikant gewürzten Oktopus vom Grill. Geschmäcker sind verschieden. Es lebe die Vielfalt.
Als ich damals nach den Ferien im Unterricht dem Biologielehrer meine Erkenntnis über die Bachforellen berichtet habe, hat er mit erhobenem Zeigefinger ergänzt: „Nicht nur wegen der Reibung und der Bewegung lieben die Tiere die Strömung. Du darfst nicht vergessen, dass die Strömung der Flussmitte die Tiere mit vorbeischwimmender Nahrung versorgt.“ So wie das Reisen uns Reisehungrige versorgt. Mit Seelennahrung.
Comments